Çanakkale 1915 – Geschichten um einen Kriegsschauplatz
Çanakkales malerische Lage an der Meerenge zwischen der Ägäis und dem Marmarameer machte die Stadt schon im Ersten Weltkrieg als Seeweg nach Istanbul interessant. Was in Deutschland größtenteils unbekannt ist, weiß in der Türkei jedes Kind: Zwischen April 1915 und Januar 1916 verteidigte die osmanische Armee mit Unterstützung des Deutschen Reiches die Meerenge der Dardanellen, um eine Eroberung der Hauptstadt Konstantinopel zu verhindern. Obwohl die alliierten Kräfte, bestehend aus dem Britischen Weltreich und Frankreich, zahlenmäßig und technologisch weit überlegen waren, gelang den Osmanen nach einer erbitterten Seeschlacht und monatelangen entbehrungsreichen Gefechten an Land der Sieg. Dabei kämpften auf alliierter Seite auch Soldaten aus Neuseeland und Australien (die sogenannten ANZAC-Truppen) sowie Soldaten aus Französisch-Westafrika. Über die Todesopfer, die die Schlacht forderte, gibt es verschiedene Angaben, ungefähr geht man von 130.000 Toten und 260.000 Verletzten auf allen Seiten aus. In Çanakkale selbst hört man oft den Ausspruch ‘burası her yerde şehit’, das heißt: ‘Überall hier liegen Märtyrer’ (im Türkischen werden mit dem Begriff allgemein Menschen bezeichnet, die für Land oder Religion gestorben sind). Aufgrund dieser besonderen Umstände wurde das Gelände in den 1970er Jahren zum Nationalpark erklärt und steht auf der UN-Liste für geschützte Gebiete. Die Stätte beinhaltet Soldatenfriedhöfe, Museen, über 150 nationale und internationale Gedenkstätten und ist mit ihrem 8 Dörfern auch ein lebendiges Erbe.
Seit 2014 strebt die türkische Delegation der UNESCO an, die Stätte als Weltkulturerbe anerkennen zu lassen. Im Nominierungsantrag wird der Kriegsschauplatz als Meilenstein in der Weltgeschichte und als letzter Gentleman-Krieg beworben, der zu einem globalen Symbol für Frieden, Toleranz und Respekt zwischen den Nationalstaaten wurde. Aber spiegeln diese Ausführungen wieder, was ‘Çanakkale 1915‘ für die Menschen in der Türkei bedeutet? Wie wird die Stätte für die UNESCO beworben, und wie wird sie vor Ort von verschiedenen Stakeholdern verwaltet, erinnert und wahrgenommen? Welche Bedeutung(en) messen insbesondere Binnentourist*innen dem Ort zu?
Diesen Fragen bin ich in meiner Feldforschung nachgegangen. In meinen Interviews mit Binnentourist*innen wollte ich vor allem wissen, mit welcher Motivation sie an diesen Ort kommen, welche Gefühle der Besuch der Gedenkstätten, Soldatenfriedhöfe und Museen bei ihnen auslösen und welche Geschichten sie bei geführten Touren besonders berühren. Dabei stand mir ein studentischer Dolmetscher zur Seite, da es mir wichtig war, dass sich die Tourist*innen bei diesem emotionalen und tiefgehenden Themen frei ausdrücken können, und da eine Beschränkung auf Englisch die Auswahl der Informant*innen und damit die Vielfalt der erhobenen Meinungen eingeschränkt hätte. Durch meine eigene Teilnahme an geführten Touren und systematische Beobachtungen an zentralen Gedenkorten auf dem Gelände habe ich mir ein Bild von der Wissensweitergabe an Besucher*innen gemacht und deren Verhalten an der historischen Stätte untersucht. Dank Experten-Interviews mit Informant*innen aus den maßgeblichen Institutionen des lokalen Tourismussektors habe ich fundierte Einblicke in die Abläufe des Kulturmanagements gewinnen können, die anzeigen, dass sich eine Erinnerungskultur um den Dardanellen-Feldzug aus türkischer Perspektive in den letzten Jahren intensiviert hat und immer weiter ausgebaut wird – sowohl räumlich als auch narrativ. In meinem Forschungsbericht stelle ich meine Ergebnisse zu lokalen Bedeutungen des Kriegsschauplatzes vor und gehe sowohl näher auf die Wahrnehmung der Binnentourist*innen ein als auch auf das Tourismus-Management-System vor Ort.