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Von einer fernen Burg und greifbar scheinenden Träumen - Daniel in Naha, Präfektur Okinawa / Japan

Gusuku Sites and Related Properties of the Kingdom of Ryukyu

"Von der großen Brücke in Tomari erblicke ich eine ins Wasser gefallene, silberne Haarnadel - ob ich sie wohl finden kann, wenn irgendeinmal die Nacht vorbei?" So lautet meine Lesung des obigen Gedichts aus dem Königreich Ryûkyû, heute Okinawa, das neben selbiger Brücke in dessen Hauptstadt Naha in Stein gemeißelt die Zeiten überdauert und meine Aufmerksamkeit erregt hat. Unerwartet hielt ich eine solche Haarnadel wenig später in meinen eigenen Händen: Während meiner Forschung zu Nachhaltigkeit von Kultur um die Welterbestätte Burg Shuri, besuchte ich auch die unscheinbare Werkstatt des Silberschmieds Herrn Matayoshi, der in sechster Generation mit sicherer, stolz vorgeführter Rhythmik einen Klotz aus purem, kaltem Silber hämmert, bis er mit gleichfalls generationsübergreifendem Symbolgehalt aufgeladene, schimmernde Formen annimmt.

Während ich den lokalen Lösungswegen zur Nachhaltigkeit solchen Kunsthandwerks nachspürte, wurde mir mehr und mehr das wirkliche Ausmaß meines eigentlich auf das Umfeld der Burg beschränkte Forschungsfelds bewusst: Regionaler und japanischer Nationalismus, unvereinbar, doch gleichzeitig auch Hand-in-Hand zu gehen scheinend; das Bewusstsein der Bevölkerung um Zerstörung und Wiederaufbau, um Unabhängigkeit, Besatzung und Dasein als Präfektur und subtropisches Inselparadies Ostasiens zwischen Tradition und Popkultur - dies alles scheint die Art, wie man vor Ort mit "Heritage" umgeht, zu beeinflussen. Fassbar wird diese Vielfalt nicht zuletzt im Kunsthandwerk, das Elemente aus China, Südostasien und Japan in Lackarbeiten, Keramik und Textilien vereinigt, während die ästhetisch ebenfalls der Tradition verpflichtete Glaskunst auch ein Spiegel der jüngeren Besatzungsgeschichte ist.

Und mitten darin Burg Shuri. Im Zweiten Weltkrieg zerstört, aber durch lokale Handwerker rekonstruiert ist sie repräsentatives Monument der lebendigen Tradition und Geschichte Okinawas. Doch wird dieses Welterbe auch abgelehnt: Es sei ja einfach ein moderner Bau, von Japan finanziert, um weiterreichende Unruhen nach einem Aufsehen erregenden Vergewaltigungsvorfall durch Soldaten der amerikanischen Militärbasen vor Ort zu unterbinden: ein Symbol politischer Bevormundung statt Kulmination regionaler Kultur?!

Wie sich zurechtfinden in diesem kaleidoskopischen Diskurs, dem labyrinthischen Nachtmahr?

Nahe des Haupteingangs fiel mir die Tafel zu einem Baum auf: Wird hier nicht auf elegant- metaphorische Weise und für aller Augen lesbar Sehnsucht nach der alten Unabhängigkeit ausgedrückt - im Herzen des angeblichen Symbols der Unterdrückung? Zu etwas ohnehin konstruiertem wie dem historischen Wert der Burg mag man geteilter Meinung sein, doch sie scheint ihre Rolle als Bühne für die Tradierung lokaler Kultur auf mehrere Weise vorzüglich zu erfüllen: Macht nicht gerade die sichtbare Spannung den Ort lebendig und interessant?

Ganz ähnlich bemüht die meistzitierte Interpretation des eingangs erwähnten Gedichts beleglos

historische Persönlichkeiten als Opfer politischer Willkür. Meine eigene Lesung: die vermeintliche Silbernadel - vielleicht nur die Spiegelung des Mondes im Wasser? Das Schriftzeichen des Ortsnamens "Tomari" zeigt dem Leser jedenfalls bildlich "etwas Weißes im Wasser". Und in der japanisch beeinflussten Gedichtform wird das aus China stammende Bild des Affen, der nach dem vermeintlichen Mond greift, aber statt dessen im Wasser versinkt, durch ein Motiv lokal-urbaner Kultur charmant und unverkennbar adaptiert.

Herr Matayoshi, im rhythmisierten Einklang mit der Tradition, schmiedet jedenfalls auch unbeirrt weiter silberne Träume, die sich dann im Haar einer Tänzerin in Burg Shuri möglicherweise unbemerkt ins Bewusstsein der Touristen schleichen.

Was ich mir aus Okinawa mitgebracht habe? Eine Menge Kunsthandwerk und das Bewusstsein, daß kulturelles Erbe und seine vielfältige Interpretationen greifbarer Ausdruck dafür sind, daß kultureller Austausch eine Bereicherung darstellt und notwendig für Lebendigkeit und Weiterentwicklung jeder Kultur ist. Wie man damit umgeht, sei jedem selbst überlassen. Jede Wertzuschreibung ist letztlich auch nicht mehr, aber auch nicht weniger, als eine ins Wasser gefallene silberne Haarnadel.